Smash Tourism?

In Kreuzberg finden sich in letzter Zeit immer mehr Aufkleber und Schriftzüge, die „Kein Herz für Touris“, „Smash Tourism“ oder „A.T.A.B“ (was ich mal als „all tourists are bastards“ interpretiere) verkünden. Hier hat es beispielsweise die Eingangsspeisekarten eines indischen Restaurants getroffen:

Ich halte das für einen klassischen Fall von Teile und Herrsche. Eine vermutlich irgendwie linke Szene wendet autonome und Antifa-Stilmittel (vgl. „Smash Capitalism“ und „A.C.A.B.„) an, um politisch gegen Tourismus oder gar Tourist_innen* vorzugehen, da mehr Tourismus in Kreuzberg mit mehr Gentrifizierung in Zusammenhang gebracht wird.

Eine Variante davon scheint mir die Identifizierung von Schwäb_innen als Hauptmotor der Gentrifizierung zu sein.

In beiden Fällen wird eine bestimmte Personengruppe als solche einheitlich konstruiert („der Schwabe“, „die Touristen“) und ihr vermeintlich häufigeres Auftreten für komplexe stadtsoziologische Veränderungen verantwortlich gemacht. Das geht so weit, dass an „linken“ Kulturabenden im Publikum abgefragt wird, wer aus Schwaben kommt und wer schon wie viele Jahre in „unserem Kiez“ lebt. Und dass ich mich frage, wann die ersten Nazibüttel den (sexistischen, an einer antifaschistischen Szenekneipe klebenden) Spruch „Touristen fisten“ (der wohl an „Nazis fisten“ angelehnt ist) wörtlich nehmen.

Ebenfalls gleich mit dem Bade ausgeschüttet werden die oft nicht bio-deutschen Betreiber_innen preiswerter Speiselokale (wie in dem oben fotografierten Fall), wenn bei ihnen nach Meinung der Aktivist_innen zu viele Tourist_innen oder Yuppies (eine gerne per Aussehen und Auftreten konstruierte Gruppe) einkehren. Dass dies in postkolonialen Zeiten und einer rassistisch strukturierten deutschen Mehrheitsgesellschaft mindestens heikel ist, und dass ebensolche Lokale zwei Straßen weiter gerne als günstige (da auf Selbstausbeutung beruhende) Verköstigung für eine breite linke, antifaschistische, autonome, anarchistische Szene dienen dürfen, scheint im Aktionismus übersehen zu werden.

Der eigentliche Gag aber: Die Beschäftigung mit Tourismus oder Schwabentum lenkt wunderbar von den tatsächlichen Ursachen der Gentrifizierung ab und von der davon profitierenden Klasse. Während Stadtpolitiker_innen ihre Hände wie immer in Unschuld, Untätigkeit oder vorgeblichem Unvermögen waschen und Immobilienverbände offen die Früchte der Gentrifizierung feiern, mobilisiert eine Kreuzberger Szene, die einmal dafür berühmt war, sich beispielsweise mit Hausbesetzungen zynischen Kapitalinteressen in den Weg zu stellen, nun gegen Gruppen feiernder Spanier_innen und gegen alle Mieter_innen, die klingen, als kämen sie aus der Nähe von Stuttgart.

Teile und Herrsche vom feinsten.

Das heißt, streng genommen kann ich nur mutmaßen, dass es sich bei den Anti-Tourist_innen tatsächlich um irgendwie „Linke“ handelt. Inhaltlich würde es mich nicht wundern, wenn die Sprüche und Aufkleber viel schlichter tatsächlich von Faschist_innen kommen. Aber noch mag ich nicht glauben, dass in Kreuzberg so viele Nazi-Dummbacken unterwegs sind, dass sie einen ganzen Diskurs über Aufwertung und ihre Ursachen prägen können.

Oder mir ist ein Argument entgangen, warum es emanzipatorischen Sinn ergeben kann, Hass auf diejenigen beziehungsweise Angst derjenigen zu schüren, die für ein paar Tage nach Kreuzberg zum Feiern kommen. Über Hinweise oder eine Diskussion per Kommentarfunktion würde ich mich  freuen.

Der Stadtsoziologe Andrej Holm stellte übrigens 2011 auf einem Workshop fest, dass sich in der musikalischen Subkultur zum Thema Gentrifizierung widerspiegelt, dass die Proteste die Kapitalseite und die ihr nützliche Politkaste weitgehend ausblenden. Sie fokussiert sich in ihrer großen Mehrheit auf die Nachfrageseite, also den Wandel in der Mieter_innen- und Geschäftsstruktur.

Zapatistas versus Teile & Herrsche

Im Vorfeld des zapatistischen Aufstands vom 1. Januar 1994 versuchte die mexikanische Zentralregierung in den 70er und 80er Jahren, den wachsenden Widerstand im Bundesstaat Chiapas durch geschicktes teile und herrsche auszubremsen. Torben Ehlers schreibt:

„Auf zweierlei Weise wurde von der „Familia Chiapaneca“ (herrschende Elite) auf die Oppositionsbewegungen reagiert: zum einen mit der Mobilisierung von Entwicklungsgeldern an staatstreue Adressaten und zum anderen durch massive Anwendung von Gewalt. […]

Castellanos, Gouverneur in Chiapas von 1982-1988, schuf den „Plan de Rehabilitatión Agraria“, dessen Ziel es war, die unabhängigen Organisationen durch gegenseitige Ausspielung zu schwächen und zu spalten. Absichtlich wurden viele Ländereien doppelt vergeben, so dass es zu Zerwürfnissen zwischen unabhängigen Organisationen wie der OCEZ und der CIOAC sowie der offiziellen Bauerngewerkschaft kam. […] Zu den sich gegenseitig schwächenden Campesino-Organisationen kamen auf Seiten der Staatspartei noch die für diese agierenden indianischen Kaziken und andere, in der Regel von Grußgrundbesitzern beauftragte paramilitärische Gruppierungen („Weißgardisten“).“

(Torben Ehlers, Der Aufstand der Zapatisten – Die „widerspenstige Schnecke“ im Spiegel der Bewegungsforschung, Tectum, 2009, S. 51 u. 52)

Clever. Land doppelt vergeben und damit die widerständigen Bäuer_innen* gegeneinander aufbringen.

Zum Glück taten die Zapatistas letztlich das Gegenteil: Statt sich spalten zu lassen, fanden sogar die revolutionäre EZLN mit städtisch-universitärem Hintergrund und die bis aufs Blut ausgebeutete, großteils indigene Landbevölkerung Chiapas zusammen und arbeiten seit 1994 gemeinsam am Aufbau humanerer, selbstbestimmterer Strukturen.

El Mural de Taniperla

Interessant übrigens, wie sich laut Ehlers die ursprünglich autoritär organisierte EZLN zwecks Rückhalt in der Bevölkerung indigenen Konsens- und Räte-Konzepten (tzeltal „huoc ta huoc“) öffnen musste und eine ungewöhnlich machtkritische Befreiungsarmee entstand, die sich basisdemokratischen Beschlüssen der Landbewohner_innen unterwirft (vgl. Der Aufstand der Zapatisten, S.69-75).

Ebenfalls spannend unter dem Aspekt teile und herrsche: Im generell offeneren Klima seit 1994 konnten die chiapanekischen Frauen wesentlich mehr Selbst- und Mitbestimmung erkämpfen, als ihnen eine machistische Armee (EZLN) und traditionell patriarchale indigene Strukturen zu Beginn zugestehen wollten (vgl. Der Aufstand der Zapatisten, S. 71, und Zwischenzeit e.V., Das Recht glücklich zu sein, Münster 2009). Meine Hypothese ist, dass der Erfolg der Zapatistas gegen die eigentlich übermächtige mexikanische Zentralregierung auch durch ein Zurückdrängen des teile und herrsche zwischen Männern und Frauen (bzw. von Männern über Frauen) mitbestimmt wird.

Verzweiflung und Privileg

Wenn’s im Kampf gegen Ausbeutung und Zerstörung mal wieder gar keine Hoffnung zu geben scheint:

„Verzweiflung können sich nur die Privilegierten leisten.“

(Ilija Trojanow, zitiert nach medico international rundschreiben 04/11)

Das dreißigste Jahr

Fragmente aus Ingeborg Bachmanns Das dreißigste Jahr:

„Im Moralhaushalt der Menschheit, der bald ökonomisch, bald unökonomisch geführt wird, herrschen immer Pietät und Anarchie zugleich. Die Tabus liegen unaufgeräumt herum wie die Enthüllungen.“

„Der große Streik: der augenblickliche Stillstand der alten Welt. Die Niederlegung der Arbeit und des Denkens für diese alte Welt. Die Kündigung der Geschichte, nicht zugunsten der Anarchie, sondern zugunsten einer Neugründung.“

(Ingeborg Bachmann, Das dreißigste Jahr, Piper, 3. Aufl, 2007, S. 54 u. 55)

Ich mag Bachmanns Stil, auch wenn ich zugeben muss, Vieles nicht zu verstehen und bei ihrer Prosa gelegentlich weiterzublättern, wenn es mir zu langatmig wird. Trotzdem spricht mich ihre Melancholie, ihr nachdenkliches Beschreiben an.

Wenn ich sie richtig verstehe, verwendet sie das Wort Anarchie hier synonym zu Unaufgeräumtheit und gegenteilig zu Neugründung. Bemerkenswert, da gerade Streiks oft als Baustein einer Neugründung im anarchistischen Sinne, einer möglicher Weise aufgeräumteren Gesellschaft als der unseren genannt werden.

Wenn die Angst regiert, …

Mit erstaunlicher Regelmäßigkeit führt in Romanen und Spielfilmen das Fehlen einer herrschenden Klasse zu Chaos, Gewalt, Mord und Totschlag. Ein Schelm, wer danach fragt, wem dieser gedankliche Automatismus nützt.

Gesehen am 1. Dezember 2011 in Berlin Kreuzberg

Das hier abgebildete Werbeplakat legt nahe, dass Robert Harris sich jüngst ebenfalls mit Genuss dieser Dystopie gewidmet hat: Nicht mehr Menschen regieren (beherrschen) dort andere Menschen, sondern die Angst. Quasi Unregierbarkeit der heute noch Regierbaren. Leider jedoch nicht, weil diese die beherrschende Klassenstruktur überwunden haben, sondern weil sie nun von einem noch Schlimmeren Gangster in Schach gehalten werden: Der Angst. Und was passiert? Es steht das Chaos bevor. Sogar global! Der ideale Stoff für lange, muckelige Dezemberabende.

In Berlin Kreuzberg sind Passant_innen* dank einer Adbuster_in kostenlos in den Genuss einer zweiten Bedeutungsebene gekommen. Was, wenn die Werbezeile „Wenn die Angst regiert, steht das globale Chaos bevor“ gar nicht die nahe Zukunft beschreibt, sondern die Gegenwart? Herrscht im Kapitalismus die Angst? Und haben wir vielleicht sogar schon das globale Chaos?

Wenn ich überlege, was ich selbst und meine Bekannten für Ängste haben, die von unserem kapitalistischen System auf die eine oder andere Art gefördert werden, kommt in der Tat einiges zusammen: Angst …

  • vor Überarbeitung,
  • vor zu wenig Zeit,
  • vor Arbeitslosigkeit,
  • vorm sozialen Abstieg,
  • vor Nichts-Wert-Sein,
  • vor Nicht-Schön-Genug-Sein,
  • vor Nicht-Clever-Genug-Sein,
  • vor Nicht-Reich-Genug-Sein,
  • vor Umweltkatastrophen (Klimawandel, AKWs, …)
  • vor sozialen Katastrophen (Krieg und Co),
  • vor Nicht-Geliebt-Werden,
  • vor Zu-Viel-Geliebt-Werden,
  • vor Vereinsamung,
  • vor Ausgenutzt-Werden,
  • vor der Konkurrenz,
  • vor den Nachbar_innen,
  • vor Einbrecher_innen,
  • vor Fahrrad- und Autodieb_innen,
  • vor Terrorismus und Extremismus,
  • vorm Kranksein,
  • vorm Alter,
  • vor Nicht-Ausreichend-Versichert-Sein,
  • vorm Überwachungsstaat,
  • vor der Polizei,
  • vorm Gefängnis,
  • vor Nicht-Ernst-Genommen-Werden,
  • vor keinem Sinn im Leben,
  • vor Impotenz,
  • vor Angesprochenwerden auf der Straße,
  • vorm Fremden-In-Die-Augen-Gucken,

Oioioi, wenn ich das selbst so lese, klingt das, als seien ich und mein Bekanntenkreis ganz schön neben der Spur. Tatsächlich scheint mir das aber der normale Alltag in unserer „freien“ Gesellschaft zu sein (wer nicht mindestens die Hälfte aller oben genannten Ängste hat, wird von mir zu einer Waffel eingeladen). Die beste aller Welten?

Und wie steht’s mit dem Chaos? Sieht doch eigentlich (außer in Berlin Kreuzberg) ganz ordentlich aus draußen auf der Straße. Drinnen im Haus. Am Arbeitsplatz. Im Jobcenter. Im Fernsehen. Na gut, im Fernsehen manchmal in den Nachrichten (in dem Teil zwischen ministerialem Statement und Lottozahlen) nicht wirklich. Da sieht’s gelegentlich kurz chaotisch aus. Aber hat das was mit Kapitalismus zu tun?

Hat Klimawandel was mit Kapitalismus zu tun? Oder Spielsucht? Oder Hunger? Krieg? Regenwaldschwund? Das Sterben an heilbaren Krankheiten? Übergewicht? Rassismus? Totgefischte Meere? Oder das Verarmen großer Bevölkerungsteile in immer mehr Ländern (Griechenland, Haiti, Argentinien, USA, Somalia, …)? Landgrabbing? Tierausbeutung? Die Verdrängung ökonomisch benachteiligter Gruppen aus ihren Stadtvierteln?

Und wie steht’s mit der Marktwirtschaft: Ist sie mehr als die Abwesenheit von planvollem Wirtschaften? Oder doch einfach nur planloses Wirtschaften? Ein nicht-organisierter (und somit natürlich auch nicht demokratisch strukturierter) Raum? Schlicht das Recht des ökonomisch Stärkeren? Also eine enge Vertraute des Chaos?

So wie die Beziehungen zwischen den Nationalstaaten? Für die aus dem kapitalistisch-chaotischen Prinzip „Konkurrenz“ folgt, dass sie „Wachstum“ und „Standort“ wichtiger behandeln als Klima, Böden, Wälder, Meere, also die Grundlagen menschlichen Lebens auf dem Planeten. Wäre man ein_e Außerirdische_r und die Erde tatsächlich nur eine Dystopie, wäre das sehr amüsant anzusehen beispielsweise auf den jährlichen UN-Klimakonferenzen.

Hm.

Ein befreundeter Konservativer hat mal gemeint, dass in linken Medien alles immer so negativ aussieht. Jetzt hab ich gleich mit meinem ersten Blogeintrag dieses Cliché bestätigt. Peinlich.

Ich hab’s, ich schließe einfach mit meiner positiven Sicht darauf, zu was diese Menschheit meines Erachtens auch fähig wäre. Gemeinsame Befreiungskämpfe. Kollektive Selbstbestimmung. Klassenlosigkeit. Gerechtigkeit. Vielfalt. Wirkliche Demokratie, nämlich von unten. Freie Entfaltung jedes_jeder Einzelnen in solidarischen Gemeinschaften. Leben und leben lassen. Buen Vivir. Auflösung von konstruierten, Diskriminierung Vorschub leistenden Kategorien wie Geschlecht, Nationalität, Ethnie, Intelligenz oder Kapitalbesitz/-nichtbesitz. Stattdessen Offenheit und Neugierde auf die Anderen. Zeit zum sich Zuhören. Zeit zum Sein statt Zeit fürs Haben. Immer weniger Arbeit. Immer mehr soziale Entwicklung. Apfelsaft für alle.

Geht nicht? Hm. Wer das so schnell sagt, ohne jahrelang immer mal wieder darüber nachgedacht und mit Freund_innen darüber diskutiert zu haben, den oder die verdächtige ich, entweder Angst davor oder kein Interesse daran zu haben. Das mit der Angst wäre verzeihlich (wäre ja nur eine Angst mehr, die uns dieses System einbrockt), sollte aber kein Hinderungsgrund sein, nicht doch mal heimlich mit der besten Freundin oder dem liebsten Kuscheltier darüber zu philosophieren.

Und wer dazu mehr Input mag, der_dem möchte ich eines dieser beiden inspirierenden Bücher ans Herz legen:

Schmökerabend.